Zürcher Erklärung 2024 der Jahreskonferenz der Direktorinnen und Direktoren der Ethnologischen und Weltkulturen-Museen und Sammlungen im deutschsprachigen Raum
Im Mai 2019 publizierte die Jahreskonferenz der Direktorinnen und Direktoren der Ethnologischen und Weltkulturen-Museen und Sammlungen im deutschsprachigen Raum die Heidelberger Stellungnahme mit dem Titel «Dekolonisierung erfordert Dialog, Expertise und Unterstützung». Wir begrüßen, dass die Heidelberger Stellungnahme inzwischen selbstverständlich als Stimme unserer Museen anerkannt wird. Mit dieser Zürcher Erklärung 2024 rücken wir die Potenziale der Ethnologischen und Weltkulturen-Museen und Sammlungen vor dem Hintergrund global erstarkender Nationalismen und Krisen weiter ins Bewusstsein von Öffentlichkeit, Politik und Medien.
– Die Ethnologischen und Weltkulturen-Museen und Sammlungen stellen sich seit geraumer Zeit ihrer Geschichte sowie den dringenden Fragen der Verflechtungen ihrer Häuser mit dem Kolonialismus und den daraus erwachsenden Verpflichtungen und Herausforderungen. Mit ihren an Vielstimmigkeit, internationalem Austausch und Transparenz ausgerichteten Initiativen arbeiten die Ethnologischen und Weltkulturen-Museen und Sammlungen gemeinsam mit der Gesellschaft.
– Ethnologische und Weltkulturen-Museen und Sammlungen können in besonderer Weise Kollaborationen und Austausch befördern und als Orte dienen, um dekoloniale Praktiken und Perspektiven zu entwickeln. Mit neuem Selbstbewusstsein tragen Menschen, deren kulturelles Erbe in Museen und Sammlungen bewahrt wird, heute ihre Anliegen bezüglich des Umgangs mit diesem Erbe an uns heran. Gleichzeitig unternehmen Ethnologische und Weltkulturen-Museen und Sammlungen proaktiv Anstrengungen, potentielle Kooperationsparter:innen zu erreichen und Sammlungsbestände bekannt zu machen. Dekolonisierung muss im gegenseitigen Interesse ein gemeinsames Projekt sein. Es geht darum, über Europa hinauszudenken, einander zuzuhören und auf staatlicher, regionaler und lokaler Ebene gemeinsam konstruktiv Lösungen zu erarbeiten.
– Menschen aus den Herkunftsländern, aus denen unsere Sammlungen stammen, erwarten zu Recht Transparenz und Offenheit. Sie sind auch berechtigt, im Umgang mit ihrem in den Museen und Sammlungen bewahrten kulturellen Erbe eigene Wege zu gehen und Entscheidungen zu treffen. Diese müssen nicht notwendigerweise mit europäischen Erwartungen oder europäischem Rechtsverständnis übereinstimmen. Jeder Fall von Mitsprache, Teilhabe und Restitution wirft unterschiedliche Fragen auf! Vor allem: In jeder Sammlung steckt neben historischen Verflechtungen auch Zukunft – im Sinn von neuen Beziehungen, die durch die Auseinandersetzung mit den Sammlungen und ihrer Geschichte geknüpft werden. Hier spielen Ethnologische und Weltkulturen-Museen und Sammlungen eine zentrale Rolle.
– Heute erleben die Ethnologischen und Weltkulturen-Museen und Sammlungen die Zuweisung von immer neuen und umfassenderen Aufgaben. Sie leisten nachhaltige, gesellschaftlich hoch relevante Beiträge zur Dekolonisierung. Um diesem Auftrag auch weiterhin nachkommen zu können, bedürfen die Ethnologischen und Weltkulturen-Museen und Sammlungen der finanziellen Planungssicherheit und einer Anpassung ihrer Budgets. Hier sind die Zuständigen in der Politik gefordert.
– Ein drängendes Problem ist aktuell die Finanzierung kooperativer Projekte wie auch von Restitutionsprojekten. Solche Projekte leisten wichtige Beziehungsarbeit. Wir fordern die Zuständigen in der Politik auf, die notwendigen Fördergelder transparent zur Verfügung zu stellen, mit denen Kooperationen und Restitutionen als Anstrengungen in all ihren notwendigen Facetten langfristig leistbar werden.
– Und schliesslich fordern wir die Auswärtigen Ämter der Länder, in denen wir ansässig sind, dringend auf, entsprechend der UNESCO-Konvention von 2005 zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen (vgl. Konventionstext Art. 16) die Visaerteilungen für unsere Kooperationspartner:innen zu erleichtern. Nur über würdige Bedingungen der Zusammenarbeit lässt sich Vertrauen herstellen, lassen sich relevante Forschungsfragen gemeinsam erarbeiten, gelangen wir zu einem angemessenen Verständnis der Bedeutung des hier bewahrten Kulturerbes für Menschen in den Herkunftsländern der Sammlungen wie auch für die postmigrantische Gesellschaft insgesamt.
Der Weg zu einer dekolonisierten Welt ist lang. Die Ethnologischen und Weltkulturen-Museen und Sammlungen und ihre Kooperationspartner:innen verfügen über wichtige Regional- und Fachexpertise, die der Dekolonisierung zuarbeitet. Wir laden die Medienorgane, die Politik, migrantische Gemeinschaften, die interessierte Öffentlichkeit dringend ein, gemeinsam mit uns und unseren internationalen Partner:innen zu überlegen, wie aus den Ethnologischen und Weltkulturen-Museen und Sammlungen heraus informierte mediale Vermittlung über die Dekolonisierung von Wissen und über kulturelle Komplexität für die zunehmend polarisierten Zivilgesellschaften verfügbar gemacht werden kann. Es geht nicht zuletzt um ein besseres Verständnis der Potenziale und auch der Herausforderungen von kultureller Diversität, im Sinn einer gemeinsamen Verantwortung und einer gemeinsamen Zukunft.
Es unterzeichnen
Wiebke Ahrndt, Übersee-Museum Bremen, Bremen
Bianca Baumann, Ethnografische Studiensammlung, Universität Mainz, Mainz
Annette Bhagwati, Museum Rietberg, Zürich
Inés de Castro, Linden-Museum, Stuttgart
Jonathan Fine, Weltmuseum Wien, Wien
Mareile Flitsch, ISEK-Völkerkundemuseum Universität Zürich, Zürich
Sarah-Nelly Friedland, Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim
Lars Frühsorge, Sammlung Kulturen der Welt, Lübeck
Daniel Furter, Schloss Burgdorf, Burgdorf
Peter Fux, Kulturmuseum St. Gallen, St. Gallen
Ernst Halbmayer u. Dagmar Schweitzer de Palacios, Ethnographische Sammlung Universität Marburg, Marburg
Peter Joch und Rainer Hatoum, Städtisches Museum Braunschweig, Braunschweig
Lars-Christian Koch, Alexis von Poser und Tina Brüderlin, Ethnologisches Museum, Berlin
Michael Kraus, Ethnologische Sammlung, Universität Göttingen, Göttingen
Nicole Landmann-Burghart, Ethnologische Sammlung, Museum Natur und Mensch, Freiburg
Katja Lembke, Landesmuseum Hannover, Hannover
Heidrun Löb, Nordamerika Native Museum NONAM, Zürich
Léontine Meijer-van-Mensch, SKD Staatliche Ethnographische Sammlungen Sachsen, Dresden
Lara Weiss und Andrea Nicklisch, Roemer- und Pelizaeus-Museum, Hildesheim
Karoline Noack, BASA-Museum (Bonner Amerikas-Sammlung), Universität Bonn, Bonn
Thomas Pauli-Gabi, Bernisches Historisches Museum, Bern
Barbara Plankensteiner, Museum am Rothenbaum MARKK, Hamburg
Anna Schmid, Museum der Kulturen, Basel
Nanette Snoep, Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln
Alban von Stockhausen, Völkerkundemuseum der J. & E. von Portheim-Stiftung, Heidelberg
Mona Suhrbier, Weltkulturenmuseum, Frankfurt a.M.
Uta Werlich, Museum Fünf Kontinente, München