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0 Kleinstadt-Ekstasen
Leben jenseits ausgetretener Pfade
Eine Kleinstadt wie Burgdorf kann Geborgenheit geben, sie kann erdrückend und beengend sein – doch gerade die Enge kann auch inspirieren.
Wir stellen hier sechs Männer vor, die ihr Leben ausserhalb der üblichen Bahnen lebten. Sie haben Burgdorf und die Welt bereichert – und sind auch manch einem gehörig auf den Geist gegangen.
Und wo sind die Frauen? Dieser Frage wird sich eine der nächsten Wechselausstellungen widmen.
1 Bunter Hund
Hans Rudolf Grimm, Erzähler 1665–1749
Er stammte aus einer angesehenen Burgdorfer Familie. Auf seinen Wanderjahren als Buchbinder-Geselle kam Hans Rudolf Grimm weit herum – bis zur Ost- und Nordsee.
Zurück in Burgdorf war er Flachmaler, Trompeter, Posaunist und eröffnete in der Burgdorfer Oberstadt ein Wirtshaus. Hier, in seiner «Märchenpinte», trug er Lieder vor und erzählte Geschichten – darunter lokale Sagen, die er sammelte und publizierte.
Grimm war wohl nicht nur ein angenehmer Zeitgenosse. Sein Wirtshaus wurde von der Polizei geschlossen – weil Grimm sich ständig mit seiner Ehefrau zankte.
Er bekleidete Ämter, verlor sie aber unehrenhaft wieder, weil man ihm Veruntreuung öffentlicher Gelder vorwarf. Seine «Schweitzer Cronica» ist unterhaltsam zu lesen, doch sie strotzt vor Erfindungen und Verdrehungen.
2 Hans Rudolf Grimm (1665–1749). Zeichnung aus einer Chronik von 1723.
3 Drachenblut und Rittermut
In grauer Vorzeit gingen Ritter Sintram und Bertram jagen. Bei den Gysnauflühen, einem Felsband über der Emme, frass ein Ungeheuer Bertram. Sintram nahm den Kampf auf: Seine Hunde bissen den Drachen in den Schwanz und er selbst zerschlug ihm mit dem Schwert den Schädel. Kaum hatte Sintram dem Untier den Bauch aufgeschlitzt, stieg Bertram unversehrt heraus. Die Ritter bauten auf dem Felsen ihre Burg und walteten fortan als Herren von Burgdorf.
So erzählt es Grimm 1732 in seiner Drachen-Ballade. Die Gründungssage von Schloss Burgdorf ist viel älter; man erzählt sie sich – in der einen oder andern Form – an vielen Orten seit mindestens achthundert Jahren. Grimm hat die Drachensage von klein auf vor Augen: Eine Wandmalerei mit dem Drachenkampf ziert die alte Markthalle auf dem Burgdorfer Kronenplatz.
Als man das baufällige Kaufhaus abreisst, kopiert Grimm das Drachenbild an die Mauer seiner Pinte. Damit illustriert er seinen Bänkelgesang wirkungsvoll und ist mit der Rettung des alten Wandbildes ein Denkmalschützer vor der Zeit.
4 Matthias Egger: «Hans Rudolf Grimms Drache», 2020.
Das Wandgemälde in Grimms Pinte existiert nicht mehr. Der Burgdorfer Künstler Matthias Egger hat die Sage für das Museum Schloss Burgdorf neu interpretiert.
5 Hans Rudolf Grimm: «Kleine Schweitzer Cronica oder Geschichtbuch», 1723.
Sammlung Rittersaalverein
6 Hans Rudolf Grimm: «Vom grossen Misch-Masch und 197 andere Meinungen, Historien und Verse».
7 Auf der Suche
Hans Morgenthaler, Schriftsteller 1890–1928
Er suchte sein Paradies – und zahlte mit dem Leben. Hans Morgenthaler, Sohn des Burgdorfer Stadtpräsidenten, studierte Botanik und Geologie und trat dem Alpenclub bei. 1911 fror er sich am Tödi fast all seine Finger ab.
1917 schickte ihn eine Schweizer Firma nach Thailand, wo Morgenthaler im Dschungel nach Bodenschätzen suchte. Er holte sich die Malaria und musste krank zurückkehren. Nun steckte er sich auch noch mit Tuberkulose an und litt unter schweren Depressionen. «Hamo» hinterliess Romane und Gedichte, von denen er die meisten in seinen Krankheitsjahren geschrieben hat.
8 Hans Morgenthalers erstes Buch: «Ihr Berge. Stimmungsbilder aus einem Bergsteiger-Tagebuch», Zürich 1916.
9 Hans Morgenthaler «in der Luft».
Ort und Datum der Aufnahme unbekannt. aus «Ihr Berge»
10 Hans Morgenthaler: «Matahari. Stimmungsbilder aus dem malayisch-siamesischen Dschungel», Zürich 1921.
11 Hans Morgenthaler: Federzeichnungen nach Motiven aus siamesischen Buddhatempeln. aus «Matahari»
12 Hans Morgenthaler in Siam (Thailand), 1919. Morgenthaler hat das Bild mit «unser tägliches Brot» beschriftet. aus «Matahari»
13 Zeichnung aus Hans Morgenthalers Gedichtband «Ich selbst. Gefühle», Zürich 1923.
14 Bodenlos
Friedrich Dürrenmatts Kurzgeschichte «Der Tunnel»
Der junge Fritz Dürrenmatt wusste nicht, was er will. Halbherzig studierte der Pfarrerssohn aus Konolfingen Philosophie und Literatur in Bern und Zürich und versuchte sich daneben als Maler und Schriftsteller.
Zu einer der bekanntesten seiner frühen Erzählungen inspirierte ihn der kurze Gyrisbergtunnel bei Burgdorf, durch den er auf seinem Weg an die Uni häufig fuhr: «Der Tunnel».
Die Fahrt durch den Tunnel – so kurz, dass der Student ihn bisher noch nie bemerkt hat –, hört nicht mehr auf. Der Zug fährt immer schneller, beginnt zu rasen; die Gleise neigen sich nach unten, dem Erdmittelpunkt zu. Die Erzählung endet ohne Hoffnung: «Was sollen wir tun?» «Nichts. Gott liess uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu.»
15 Friedrich Dürrenmatt, späte 1940er Jahre.
Foto: Bernhard Wicki, Schweizerisches Literaturarchiv
16 Ausschnitt aus «Der Tunnel» von Friedrich Dürrenmatt, gelesen von Maria Becker. 17 Min.
Deutsche Grammophon, 2003
17 Friedrich Dürrenmatt: «Der Tunnel», Zürich 1952.
18 Umwege
Der einzige Tunnel der alten Bahnstrecke Olten–Bern wäre eigentlich unnötig gewesen: Man hätte die Strecke auch ohne Tunnel über Kirchberg führen können. Doch das hätte einflussreichen Burgdorfern nicht gepasst. Sie setzen sich bei den Chefs der Centralbahn dafür ein, die Bahn einen Umweg durch ihr Städtchen machen zu lassen.
Der Centralbahn bringt das ein paar Schwierigkeiten: Der Gyrisberg zwischen Wynigen und Burgdorf besteht aus sandigem Schutt, der leicht einstürzt. Tatsächlich kommt beim Bau 1855 ein Arbeiter ums Leben, als ein Gerüst zusammenbricht.
Der Tunnel selber ist (noch) nie eingestürzt. Nur einmal neigt der Tunnel sich merkwürdig gegen unten – und hört und hört und hört nicht mehr auf …
19 Längsschnitt durch den Gyrisbergtunnel und die grosse Emmenbrücke (Reproduktion), 1924.
1924 wurde die Bahnstrecke elektrisiert. Um Platz für die Oberleitungen zu gewinnen, mussten die Gleise abgesenkt werden.
SBB Historic
20 SBB-Fahrplan für die Strecke Bern – Olten, Sommer 1945 (Reproduktion).
Damals pendelte der junge Student Friedrich Dürrenmatt regelmässig zwischen Bern und Zürich.
SBB Historic
21 SBB-Wagen der 1940er Jahre.
Sammlung Verkehrshaus der Schweiz, Luzern
22 Nonkonform
Sergius Golowin, Schriftsteller 1930–2006
«Nonkonformisten» nannte sich in den 1950er und 1960er Jahren eine Gruppe von Autoren und Autorinnen in Bern. Sie wollten mit ihrer Arbeit aufbrechen, was sie als verkrustete Strukturen des Kulturbetriebs empfanden.
Der Schriftsteller Sergius Golowin war ein «Nonkonformist». Er leitete von 1957 bis 1968 die Stadtbibliothek in Burgdorf. Hier organisierte er wöchentliche Lesungen und Referate und interessierte sich dabei insbesondere für Volkssagen, für Geschichten von Geisterwesen und für das Leben von Menschen am Rande der Gesellschaft.
Das bürgerliche Burgdorfer Establishment lehnte ihn ab; vielen Jugendlichen, denen die Kleinstadt zu eng war, eröffnete er neue Horizonte.
23 Sergius Golowin, 1964.
Archiv Sergius Golowin, Bern
24 Bruder im Geiste
Dem Stadtbibliothekar Golowin gerät einiges in die Hände. Eines Tages entdeckt er die Schriften Hans Rudolf Grimms. Der Tausendsassa aus dem vorletzten Jahrhundert interessierte sich für die Sorgen der «kleinen Leute» und eckte mit seiner Art bei den «Oberen» öfter an – Golowin hatte in Grimm einen Geistesverwandten entdeckt, einen frühen Nonkonformisten!
Zusammen mit dem Verleger René Simmen gibt Golowin Texte Grimms unter dem Titel «Vom grossen Misch-Masch» neu heraus. Pole Lehmann illustriert das Büchlein.
25 Bücher von Sergius Golowin, entstanden in Golowins Zeit als Burgdorfer Stadtbibliothekar.
26 1957 wurde Sergius Golowin Stadtbibliothekar in Burgdorf, 1968 kündete er die Stelle und verliess das Städtchen. In den elf Jahren hatte er sich durch sein kulturelles und politisches Engagement
zu einem schweizweit bekannten Schriftsteller und «Nonkonformisten» entwickelt.
27 Die Veranstaltungsreihe «Burgdorfer Begegnungen» existierte schon, bevor Golowin nach Burgdorf kam. Er aber machte daraus ein wichtiges Diskussionsforum, das nebst literarischen und heimatkundlichen auch immer wieder gesellschaftlich brisante Themen zur Debatte brachte.
28 Inspiriert von Sergius Golowins kulturellem Engagement organisierte der Burgdorfer Gymnasiast Martin Schwander mit seiner «Gruppe 67» Lesungen. 1967 las Guido Bachmann aus dem Roman «Gilgamesch», der wegen seiner Homoerotik als nicht jugendfrei gilt.
Die Lesung löste den «Burgdorfer Literaturskandal» aus; Martin Schwander wurde vom Gymnasium verwiesen. Als sich Prominente wie Max Frisch für ihn einsetzten und der «Blick» fragte: «Ist Burgdorf die Hochburg der Spiessbürgerei?», nahm die Schule Schwander wieder auf.
29 Im Herbst 1966 trafen sich Kunst- und Literaturschaffende der Region Bern zum ausgelassenen Happening auf der Lueg. Zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern gehörten die Künstlerin Meret Oppenheim, der Plastiker Bernhard Luginbühl, der Ausstellungsmacher Harald Szeemann, die Künstlerin Lilly Keller und der Fotograf Leonardo Bezzola, der alles dokumentierte. Auch Sergius Golowin war dabei.
30 Savoir vivre
Bruno Bandi, (Lebens-)Künstler 1935–1996
Der Burgdorfer Bruno Bandi war ein Künstler, von dessen expressiv-farbigem Werk nur wenig erhalten geblieben ist. Und er war so vieles mehr in seinem Leben: Schiffskoch, Gemüsespezialist, Eishockeyspieler, Erdbeerverkäufer, Sekretär, reisender Kaufmann für Olivenöl, Reiseleiter sowie Küchenbursche und erster Forellentöter im Löwen Heimiswil …
Und man sagt, er habe das Pétanque-Spiel und den französischen Anisschnaps Pastis nach Burgdorf gebracht.
31 Bruno Bandi; Fotos um 1980.
Archiv Susanne Kindler, Bern
32 Von links:
Bruno Bandi, ohne Titel, 1978
Bruno Bandi, ohne Titel, 1983
Bruno Bandi, ohne Titel. Lithografie, 1974
Bruno Bandi, ohne Titel, 1974
Leihgaben Susanne Kindler, Bern/Stadt Burgdorf
33 Stefan hat Kummer
Zdevan Qumr, Künstler 1963–2013
«Zdevan» könnte serbokroatisch sein, «Qumr» arabisch? Mitnichten: Der Burgdorfer hiess eigentlich Stefan Kummer. Seine Kunststudien führten ihn nach Biel und Barcelona; in Biel fand er schliesslich seinen Platz als Künstler.
Malen sei wie Tanzen, hat Zdevan Qumr einmal gesagt. Er zog sich oft zurück, litt häufig an der Einsamkeit und schrieb von «Dämonen», die ihn bedrängten.
Es fiel ihm schwer, mit anderen zu kommunizieren – doch in der Kunst, dem Schreiben und der Musik fand er schliesslich seine Sprache.
34 Zdevan Qumr, 1987.
Foto Mischa Dickerhof
35 Von links:
Zdevan Qumr: Grincer/Recinar, 2005
Zdevan Qumr: ohne Titel (9-teilige Bildinstallation), 1993
Zdevan Qumr: Radiation circulaire/Radiación cirular/jolimai 12, 2012
Zdevan Qumr: Vier Notate aus dem Nachlass
Leihgaben Susanne und Heinz Kummer, Burgdorf