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0 Pestalozzi! (1746–1827)
Der grosse Pädagoge auf dem Schloss
Johann Heinrich Pestalozzi, der grosse Schweizer Pädagoge, spann seine Ideen zum Teil in diesen Mauern.
Als Romanautor und Waisenhausleiter war er bereits berühmt, als ihn der helvetische Kulturminister Philipp Stapfer und dessen Burgdorfer Schwager Samuel Schnell 1799 als Lehrer nach Burgdorf holten.
Pestalozzi arbeitete in verschiedenen Funktionen und gründete ein eigenes Institut – doch sein Aufenthalt dauerte nur kurz: 1804 zog Pestalozzi weiter.
Die hier gezeigten Objekte gehören zur Sammlung Rittersaalverein.
1 Der Staat braucht Bürger
Pestalozzi im Dienst der Helvetischen Republik
Zur Zeit der Helvetischen Republik, von 1798 bis 1803, hatten fortschrittliche Politiker das Sagen. Sie glaubten fest daran, dass Bildung die Menschen zu Bürgern eines demokratischen Staats formen kann (von Bürgerinnen war noch keine Rede).
Philipp Albert Stapfer, Kulturminister der Helvetik, wollte das Bildungswesen in diesem Sinne erneuern. 1799 berief er Pestalozzi als Lehrer nach Burgdorf.
1800 starb der Leiter des Burgdorfer Lehrerseminars. Pestalozzi konnte übernehmen – und gründete im Schloss sein eigenes Erziehungsinstitut.
2 Den Franzosen sei Dank
1798 überfallen französische Truppen die Schweiz. Besonders schlimm wüten sie im nidwaldischen Stans. Dort begründet Heinrich Pestalozzi ein Waisenheim für die Kinder, deren Eltern den Franzosen zum Opfer gefallen sind.
Die gleichen Franzosen bringen fortschrittliche Männer an die Spitze der neuen Helvetischen Republik. Kulturminister wird der Aargauer Philipp Albert Stapfer. Besonders am Herzen liegt ihm eine moderne Bildung. Von seinem Schwager Samuel Schnell erfährt er, dass in Burgdorf das Schloss leer steht. Das kann er brauchen: als Standort für eine moderne Schule.
Stapfer holt den Reformpädagogen Pestalozzi nach Burgdorf. Manch altgedienter Lehrer hat wenig Freude am neuen Geist – dafür freuen sich die Wirte über die reichen Besucher, die «Pestaluzz» aus ganz Europa nach Burgdorf lockt.
3 Samuel Schnell (1775–1849). Lithografie.
4 Philipp Albert Stapfer (1766–1840). Lithografie.
5 Johann Christoph Buss: «Blick zur Kirche», Aquarell, um 1805. Hier, in der Burgdorfer Unterstadt, unterrichtete Pestalozzi Kinder aus der Unterschicht. Der altgediente Schulmeister, Schuhmacher Dysli, war über Pestalozzis Unterrichtsstil wenig erbaut.
6 «Kirchbühl-Quartier», Federzeichnung, nach 1732. Die Kinder der Oberschicht erhielten ihren Unterricht am Kirchbühl. Als Pestalozzi hierhin berufen wurde, weigerte sich der altgediente Schulmeister Ris, mit Pestalozzi zusammenzuarbeiten.
7 Schul-Elend
Unterricht in vormodernen Zeiten
Städtische Schulen gibt es seit dem Mittelalter.
Kinder der Oberschicht bereiteten sich in den Lateinschulen für ein späteres Studium an einer höheren Schule vor. Weniger wohlhabende Kinder lernten in Volksschulen vor allem religiöse Texte auswendig und sangen fromme Lieder. Die Klassen waren gross, die Lehrer nicht ausgebildet.
Am Ende der Schulzeit konnten die meisten ein wenig lesen; schreiben oder rechnen hatten sie kaum gelernt. Kinder auf dem Land besuchten oft nur im Winter eine Schule, wenn es auf dem Feld wenig zu arbeiten gab.
8 Albert Anker: «Dorfschule von 1848», (Reproduktion). Knaben und Mädchen lernten im selben Zimmer – doch von Gleichberechtigung konnte noch keine Rede sein: Pulte hatten nur die Knaben.
9 Unterricht hiess in reformierten Gegenden lange einfach: den Katechismus auswendig lernen. Ein Katechismus enthält die wichtigsten Inhalte des reformierten Glaubens in Form von Frage und Antwort.
10 «Kleiner Catechimus oder kurzer einfaltiger Kinder-Bericht von den fürnehmsten Hauptstücken der Christlichen Lehre», Bern 1793.
Gelesen von Dodo Deér. 6 Min. 12 Sek.
11 «Kleiner Catechimus oder kurzer und einfaltiger Kinder-Bericht von den fürnehmsten Hauptstücken der Christlichen Lehre», Bern 1793.
12 «Catechismus der Kurzer Unterricht christlicher Lehre», Bern 1771.
13 «Kurtzer Bericht Von den H. Sacramenten». Handgeschriebener Katechismus, 18.Jahrhundert.
14 Solennitäts-Taler von 1772. Besonders gute Schülerinnen und Schüler erhielten solche Taler im 18.Jahrhundert als Belohnung. Als gut galt, wer Fragen aus dem Katechismus fehlerfrei beantworten und 300 Psalmen auswendig hersagen konnte.
15 Kopf, Herz und Hand
Pestalozzis ganzheitliche Erziehungsmethode
Pestalozzi las die Schriften Jean-Jacques Rousseaus, des bekannten Genfer Philosophen der Aufklärung. Vor allem dessen Bildungsroman «Emile» beeinflusste Pestalozzi stark.
Erziehung soll vollenden, was im Menschen angelegt ist. Die Schüler sollen die Welt selber betrachten. Pestalozzi zerlegte den Unterricht in einzelne Schritte – doch den Menschen wollte er als Ganzes wahrnehmen: «Kopf, Herz und Hand» lautet sein Motto. In seiner Erziehungsmethode sah Pestalozzi das «einzige Rettungsmittel der Nation».
16 Bericht des zehnjährigen Johannes Ramsauer über den Unterricht Pestalozzis im Erziehungsinstitut. Gelesen von Stefan Schönholzer und Peter Fischli. 3 Min. 19 Sek.
Aus: Christian Widmer: «Pestalozzis Burgdorfer Zeit», Bern 1973
17 Heinrich Pestalozzi: «Anweisung zum Buchstabieren- und Lesenlernen», Bern 1801.
18 Heinrich Pestalozzi: «Buch der Mütter, oder Anleitung für Mütter, ihre Kinder bemerken und reden zu lehren», Zürich/Bern/Tübingen 1803.
19 Joseph Schmid: «Die Elemente der Form und Grösse (gewöhnlich Geometrie genannt) nach Pestalozzis Grundsätzen», Bern 1809.
20 Kurzes Wirken
Pestalozzi zwischen Pädagogik und Politik
Pestalozzis Erziehungsinstitut auf dem Schloss Burgdorf umfasste Schule, Lehrerseminar, Waisenhaus und Pension. Pestalozzi selber unterrichtete, empfing Besuch und schrieb an seinen Büchern – darunter seinem Hauptwerk «Wie Gertrud ihre Kinder lehrt».
1803 ging nach nur fünf Jahren die Helvetische Republik unter, die alten Eliten gelangten wieder an die Macht. Pestalozzi musste mit seinem Institut Burgdorf verlassen. Er zog nach Münchenbuchsee, bevor er sich schliesslich in Yverdon niederliess.
21 Der Philosoph Arthur Schopenhauer reiste 1804 durch Europa und besuchte dabei Pestalozzi in Burgdorf.
22 Wilhelm Christian Türk, Jurist im Dienst des Herzogs von Mecklenburg-Sterlitz, war von Pestalozzis Methode überzeugt.
23 Der Philosoph und Pädagoge Johann Friedrich Herbart lebte im ostpreussischen Königsberg und setzte sich in Deutschland für Pestalozzis Ideen ein.
24 Auf dem Plan von 1912 sind die Nutzungen des Schlosses zur Zeit von Pestalozzis Institut verzeichnet.
1 Speisesaal
2 Küche
3 Pestalozzis Schlaf- und Studierzimmer
4–6 Zimmer der Lehrer
7 Wohnzimmer von Pestalozzis Mutter
8 Kinderschlafzimmer 9 Pestalozzis
«Turmstübchen»
10 Unterrichtsräume
11 grosser Gang
12 «Känzeli»
13 Ziehbrunnen
25 Ofenkachel, um 1835. Aufschrift: «Heinrich Pestaluz wahr ein Mann der viel Groses hat gethan».
26 Lernen in und von der Welt
Im Schulzimmer sitzend den Katechismus auswendig lernen: Das entspricht nicht Pestalozzis Idee einer guten Schule. Kinder lernen, indem sie die Welt um sich herum betrachten!
Spaziergänge gehören für Pestalozzi zum Unterricht – beispielsweise durchs Bachbett der Emme, wo die Kinder Steine in unterschiedlichen Formen und Farben sammeln.
27 J.F. Wagner: «Schloss Burgdorf von Osten», Lithografie, erste Hälfte 19.Jahrhundert.
28 Druckfahnen des Romans «Wie Gertrud ihre
Kinder lehrt», Bern/Zürich 1801. Im Gartenhäuschen vor dem Schloss, heisst es, brachte Pestalozzi sein Bildungsprogramm in die literarische Form dieses Briefromans.
29 Pestalozzi national
Der Ruhm des Pädagogen und Wohltäters
Mit Pestalozzis Namen verbinden heute viele nicht so sehr den Neuerer der Pädagogik, sondern vor allem den Wohltäter. Dieser Ruf geht zurück auf Pestalozzis grossen Einsatz für die Waisen in Stans nach dem Überfall der Franzosen.
Als Pädagoge war Pestalozzi schon zu Lebzeiten berühmt. Er nutzte seinen Ruhm, um seine Ideen zu verbreiten. Kurz vor seinem Tod 1827 bereitete er noch die Herausgabe seiner «Sämmtlichen Schriften» vor.
Nach dem Sonderbundskrieg und der Bundesstaatsgründung 1848 brauchte die Schweiz Vorbildfiguren, mit denen sich katholische wie reformierte Bürger identifizieren konnten. Bruder Klaus wurde so eine Figur, der Rotkreuz-Gründer
Henri Dunant – und Heinrich Pestalozzi.
30 Ein Handtuch aus Pestalozzis Armenschule.
1769 gründete Pestalozzi mit seiner Frau Anna bei Brugg eine Armenschule. Er versuchte, die Schule zu finanzieren, indem er die Kinder Tüchlein weben liess, die er auf dem Wochenmarkt verkaufte.
31 Auf dem Sockel
Pestalozzi wendet sich dozierend einem Knaben zu, der seinen Blick wissbegierig auf den grossen Lehrer richtet. Ein Mädchen klebt ihm auch noch am Bein …
So hat der Bildhauer Karl Alfred Lanz den Reformpädagogen in Bronze gegossen. Seine Statue steht zuerst in Paris, bevor sie 1890 nach Yverdon gelangt, wo sie seither steht. Diese kleine Plastik ist jener Statue nachgebildet.
Auch Zürich bekommt 1899 «seinen Pestalozzi» in Bronze: Der einst die Bildungslandschaft in Bewegung versetzte, steht nun unbeweglich auf dem Sockel.
32 Bronzeplastik, Nachbildung des Pestalozzi-Denkmals von Yverdon.
33 Joseph Anna Maria Christen: Lebendmaske Pestalozzis, 1809 (Reproduktion).
Der bayrische König Ludwig I. besuchte Pestalozzi 1805 in Yverdon und war so beeindruckt, dass er
den Bildhauer Christen diese Maske anfertigen liess.
34 «Pestalozzi’s Sämmtliche Schriften. In 15 Bänden. Herausgegeben in der J.G. Cotta’schen Buchhandlung», Stuttgart/Thübingen 1819–1826.
35 Beizenflaute und Kindergarten
Pestalozzis pädagogisches Erbe in Burgdorf
Als Pestalozzi weitergezogen war, bekamen das als erste die Burgdorfer Gastwirte zu spüren: Die vielen gut betuchten Gäste blieben nun aus …
Aber Pestalozzis Geist war nicht völlig verschwunden: Einige seiner ehemaligen Schüler wirkten in der Politik und im Erziehungswesen in Burgdorf und im Kanton Bern.
Der Schriftsteller Jeremias Gotthelf engagierte sich für eine Volksschule auf dem Land, nachdem er in Langenthal eine Rede Pestalozzis gehört hatte.
Ein späterer Leiter des Burgdorfer Waisenhauses, der Kindergarten-Pionier Friedrich Fröbel, war ebenfalls ein Schüler Pestalozzis.
36 Friedrich Fröbel, Pestalozzi-Schüler und «Erfinder» des Kindergartens. Lithografie, 19.Jahrhundert.
37 Daniel Haas: «Westeingang von Burgdorf», Zeichnung, 1844/45. Das Gebäude mit dem aufsteigenden Rauch ist das Waisenhaus.
38 Pestalozzi weitergespielt
Kinder lernen im Spiel – wenn man sie denn spielen lässt: Davon ist der deutsche Pädagoge Friedrich Fröbel überzeugt. Er entwickelt ein System pädagogischer Spiele und gründet 1840 den ersten Kindergarten. Pestalozzi ist für Fröbel ein wichtiges Vorbild.
Als junger Pädagoge lernt er Pestalozzis Schriften kennen und begibt sich in dessen Institut in Yverdon. Nach Differenzen mit seinem Lehrer zieht er weiter,
kreuzt aber noch einmal Pestalozzis Spuren: Als Leiter des Waisenhauses wird auch er in Burgdorf tätig.
39 Aus einfachen Elementen wie Ball, Würfel und Walze entwickelte Fröbel seine pädagogischen Spiele. Diese Holzfigur ist dem Fröbel-Denkmal in Bad Blankenburg (Thüringen) nachgebildet.
40 Friedrich Fröbel: «Regeln und Beschäftigungskästen N° 1», Reproduktion aus «Spiel- und Beschäftigungskästen für die Kindheit und Jugend. Erste Gabe: der Ball als erstes Spielzeug des Kindes», Blankenburg/Kehlheim 1838.
41 Gottfried Herzig: «Bättwil», Ölbild, 20.Jahrhundert.
42 Reglement der Armenanstalt Bättwil, 1835/1836.
Die Stadt Burgdorf richtete 1835 auf dem Hof Bättwil nach Pestalozzis Ideen eine Erziehungsanstalt für arme Knaben ein.
Leihgabe Burgerarchiv Burgdorf
43 Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf (1797–1854).
44 Auf den Geist
Acht Kilometer sind es von Lützelflüh bis Burgdorf: zwei Stunden laut Angaben des Wanderwegweisers. Albert Bitzius, besser bekannt als Jeremias Gotthelf,
geht diesen Weg oft zu Fuss: Der Pfarrer und Schriftsteller lehrt in Burgdorf Schweizergeschichte in Lehrerkursen.
1826 hört der junge Bitzius eine Rede des alten Pestalozzi. Sie prägt auch sein Verständnis einer guten Schule. In seinem Roman «Leiden und Freuden eines Schulmeisters» zeichnet er ein elendes Bild der Berner Volksschule.
Als Schulinspektor engagiert er sich für die Anliegen von Lehrern und Schülern und teilt seine Meinung in geharnischten Briefen der Erziehungsdirektion mit.
Den kantonalen Beamten geht das gehörig auf den Geist: 1845 entlassen sie ihn als Schulinspektor.
45 Gotthelfs Spazierstock.
46 Übervater
Was von Pestalozzi bleibt
Der grosse Ruhm hat das Bild von Pestalozzi verklärt. Dabei hatte der Pädagoge auch zweifelhafte Seiten.
Die Erziehung seines eigenen Sohns gelang ihm schlecht; Mädchen nahm er neben den Buben kaum zur Kenntnis; seine «Methode» blieb trotz aller Schriften schwammig. Pestalozzi war autoritär, prügelte die Kinder und
schürte unter seinem Personal Streit und Intrigen.
Doch erst in den jüngsten Jahren hat sich das Bild des Übervaters der Schweizer Pädagogik etwas geklärt. Im 20.Jahrhundert waren an den Lehrerseminarien
der Schweiz noch alle überzeugte «Pestalozzianerinnen» und «Pestalozzianer».
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48 Interview mit Barbara Burri, Lehrerin in Burgdorf, 2019. 4 Min.
49 Interview mit Norbert Grube, Professor für Bildungs- und Schulgeschichte an der Pädagogischen Hochschule Zürich, 2019. 4 Min.