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0 Nicht «wichtig»
Lebensgeschichten armer Leute
Die Leben armer Leute hinterlassen meist wenig Spuren. Arme besitzen wenig. Was sie tun, gilt als «nicht wichtig» und selten haben sie die Musse, aufzuschreiben, was sie tun. In den Museen erfährt man wenig über sie und ihre Leben.
Die Lebensgeschichten, die wir in diesem Raum zeigen, bauen auf den Zeugnissen «einfacher» Leute auf. Dass diese Zeugnisse existieren, ist aussergewöhnlich – und doch stehen diese Geschichten stellvertretend für die vielen.
Auch wenn die Schweiz heute ein reiches Land ist: Geschichten von Armut und Not gibt es nach wie vor.
1 Heimatlos
Leben am Rand der Gesellschaft
Schweizerinnen und Schweizer haben einen Heimatort. Was heute bedeutungsloses Überbleibsel alter Zeiten ist, war einst mit wichtigen Rechten verbunden: das Recht auf Niederlassung, Heirat oder Armenunterstützung.
Man konnte das Heimatrecht verlieren, wenn man lange fort war, jemanden mit einer anderen Konfession heiratete und auch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung.
Auch Sinti und Jenische waren als «Zigeuner» heimatlos. Heimatlos waren schliesslich die Kinder heimatloser Eltern. Nirgends lange geduldet, verdienten sie Geld als Hausierer oder wurden in die Kleinkriminalität gedrängt. Viele landeten im Zuchthaus oder, zum Zweck der «Besserung», in Zwangsarbeits-Anstalten.
Das Heimatlosengesetz von 1850 gab 30 000 Menschen endlich eine Heimat – häufig gegen den Widerstand ihrer Gemeinden. Doch Menschen ohne gültige Papiere gibt es bis heute. In ständiger Angst vor einer Ausweisung leben diese «Sans-Papiers» in der Schweiz und anderswo fast ohne rechtlichen Schutz.
2 Aus minderem Haus
Albert Minder, Dichter und Maler, 1879–1965
Die jenische Familie Minder zog über Generationen als «Vaganten» ohne Heimatrecht durchs Land, um vom Flicken von Körben und Geschirr zu leben. 1861 erhielt die Familie das Bürgerrecht in Limpach – gegen den Widerstand der Gemeinde.
Wir kennen die Familiengeschichte dank Albert Minder. Als guter Schüler wollte Albert Lehrer werden. Das Lehrerseminar in Hofwil musste er aber abbrechen, weil er für das Schulmaterial zu wenig Geld hatte. Auch das Lehrgeld für eine Berufslehre fehlte ihm. So machte er «nur» eine Anlehre als Maler in Moutier und begann danach in der Burgdorfer Maschinenfabrik Aebi als Dekorationsmaler zu arbeiten.
Später, als junger Mann, konnte Albert Minder doch noch die Kunstgewerbeschule in Basel absolvieren. Danach kehrte er zu Aebi zurück, wo er 40 Jahre blieb. Er engagierte sich politisch und schrieb, malte, reiste und fotografierte in seiner Freizeit.
3 Familienforschung
Albert Minder entschlüsselt die Geheimnisse seiner Familie wie ein Detektiv: Sein Vater schämt sich für seine Herkunft, denn er stammt aus einer fahrenden Korberfamilie. Sesshafte dulden Fahrende nur auf Zeit und meiden
den Kontakt. Nur selten erzählt der Vater von damals.
Gesprächiger sind die Grosseltern, die zeitweise im Haushalt seiner Eltern wohnen. Erst als die Eltern tot sind, kann Albert die vergilbten Familienpapiere durchstöbern und kommt seiner Geschichte auf die Spur. Sie reicht für zwei Bücher: «Der Sohn der Heimatlosen» und die «Korber-Chronik»
4 Albert Minder: «Der Sohn der Heimatlosen. Eine Lebensgeschichte in Gedanken und Gedichten», Burgdorf, Eigenverlag 1925.
5 Einmal Korber, immer Korber
Das Wenige, was Albert Minder von seinen Grosseltern erbt, bewahrt er wie Heiligtümer auf: Etwa einen Kachelbohrer «mit vorsintflutlichem Schnurantrieb», wie Minder schreibt. Die Grosseltern bohrten mit diesem Werkzeug Löcher in zerbrochenes Keramikgeschirr und fügten die Scherben mit Draht zusammen. Der Bohrer erinnert daran, dass Minders Vorfahren vom Geschirrflicken und vom Verkauf selbst gefertigter Körbe lebten. Sie zogen mit ihrem Karren auf der Landstrasse von Dorf zu Dorf.
Wie oft haben sie auf Säcken unter dem Karren übernachtet! Die besten Schlafplätze sind bei Grenzsteinen: Will der Landjäger der Gemeinde die Hausierer vertreiben, wechseln sie einfach über die Grenze.
6 Kachelbohrer mit Schnurantrieb, Alter unbekannt.
7 Der «Hinkende Bote» von 1889. Als Kind musste Albert Minder mit dem populären Volkskalender hausieren gehen, um für die Familie ein wenig Geld hinzuzuverdienen.
8 «Zigarrenarbeiter-Elend». Gedicht von Albert Minder in der Arbeiterzeitung «Grütlianer», 1905. Minders Eltern hatten beide in einer Zigarrenfabrik gearbeitet.
9 Familienfoto mit Mutter Maria, Vater Jakob und den Brüdern Albert und Ernst Minder.
10 Sendung Radio DRS 1 vom 9. Mai 1976 mit Ausschnitten aus Texten von Albert Minder. 7 Min. 10 Sek.

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11 Albert Minder in der Maschinenfabrik Aebi in Burgdorf, um 1940.
12 Für eine bessere Welt
Albert Minder malt und dichtet, doch um Schöngeistiges geht es ihm nie: Er will die Welt verbessern. 1899 tritt er dem Grütli-Verein bei, der kurze Zeit später in der Sozialdemokratischen Partei aufgeht, und hinterlässt Spuren: Er gründet eine Arbeiter-Bibliothek, zwei Arbeiter-Chöre und einen Arbeiter-Bildungskreis. Auch der Arbeiter-Turnverein Burgdorf und die Roten Falken, eine Art sozialistische Pfadi, zählen Minder zu ihren Gründervätern.
Und Minder will in den politischen Gremien mitwirken: 1913 kandidiert er vergeblich für den Burgdorfer Gemeinderat, die Stadtregierung. 1926/27 sitzt er für kurze Zeit im Burgdorfer Stadtrat, dem Parlament. Ab 1931 vertritt Minder, der nicht Lehrer werden konnte, Burgdorf für sechs Jahre in der Mittelschulkommission.
13 Wahlinserat des sozialistischen Grütlivereins Burgdorf und Bekanntgabe der Resultate der Gemeinderatswahl 1913. Albert Minder unterlag in zwei Wahlgängen.
14 Albert Minder: «Fabrikfeierabend», auch «Fahrender Musikant beim Fabrikfeierabend» oder «Abend vor dem 1.Mai». Minder stellte sich auf dem Ölbild von
1907 selber dar (rechts, mit Pfeife – obwohl er gar nicht rauchte).
15 Porträt des 35-jährigen Albert Minder, Fotoatelier Bechstein, Burgdorf, 1914.
16 Albert Minder mit der sozialistischen Frauenrechtlerin Anny Klawa-Morf, 1928. Die beiden gründeten die Jugendorganisation Rote Falken mit.
17 Haus am Alten Markt 6 in Burgdorf. Hier wohnte Albert Minder mit seinem Bruder und dessen Familie.
18 Im Dichterhäuschen
Albert Minder muss alt werden, bis er im eigenen Haus wohnt: In seinen Berufsjahren kommt er bei seinem Bruder unter, am Alten Markt 6 in Burgdorf. Erst nach der Pensionierung 1948 pachtet er von der Burgergemeinde für hundert Franken im Jahr ein Stück Land. Am Stadtrand von Burgdorf, am Schönebüeli, lässt er sich eine Holzbaracke bauen: sein «Dichterhäuschen».
Er verziert Aussen- und Innenwände mit eigenen Gedichten, rund ums Häuschen legt er einen bunten Wall mit Steinen aus der Emme an. Auch die Steine beschriftet er oder bemalt sie mit Drachenköpfen. Bis ins hohe Alter ist das Dichterhäuschen Albert Minders Daheim. Dort plaudert er mit seinen Freunden über Gott und die Welt.
19 Albert Minder vor seinem «Dichterhäuschen» am Schönebüeli in Burgdorf, 1951.
20 Postkarten von Albert Minders Reisen.
21 Albert Minder mit Martin Schwander, einem späteren Journalisten, Autor und Lokalpolitiker der Partei der Arbeit, ca. 1963.
22 Bücherwurm
1344 Bücher stehen in Albert Minders Dichterhäuschen; für alles andere bleibt nicht viel Platz. Bücher sind seine Freunde. Viele verziert er liebevoll, alle verzeichnet er in seinem «Katalog der Bibliothek von Albert Minder»: Er behält gern den Überblick, was er an Büchern besitzt.
In seinem Testament verfügt er, seine Büchersammlung sei an die Bibliothek in Burgdorf zu verkaufen. Doch die hat kein Interesse und die Bibliothek zerstreut sich in alle Winde: Einiges nehmen Freunde mit, das Tagebuch bewahrt sein Neffe Werner Minder auf, den Rest übernimmt ein Antiquariat.
23 Bücher aus Albert Minders Privatbibliothek.
In der satirischen Arbeiterzeitung «Der Neue Postillon» veröffentlichte Albert Minder selbst unter Pseudonym viele Texte.
24 Der Maa Albärt Minder vo Burgdorf
Minders Welt wird im Alter immer kleiner: Zwar gehen viele Freunde im Dichterhäuschen ein und aus – Autor Sergius Golowin, Journalist Martin Schwander, Musiker Baschi Bangerter, Spieleerfinder Urs Hostettler; allesamt Unangepasste und für die Fahrenden Engagierte. Auch Burgdorfer Jugendliche besuchen den alten Dichter. Doch im Alter von 86 Jahren mag er nicht mehr: Albert Minder nimmt sich das Leben.
Einige Jahre nach seinem Tod veranstalten seine Freunde in Bern einen Erinnerungsabend für Albert Minder – ein Gesamtkunstwerk mit Musik, Schauspiel und Bildern. Urs Hostettler und die Folkrockgruppe Saitesprung vertonen einige seiner Gedichte.
25 Plakat für den Erinnerungsabend für Minder am Ostermontag 1973 in Bern.
26 Heimatlos heute
«Sans-Papiers» in der Schweiz
Sie sind nicht registriert und niemand weiss, wie viele sie sind: Von 90 000 bis 250 000 reichen die Schätzungen. «Sans-Papiers» leben ohne Bewilligung in der Schweiz. Viele von ihnen sind legal eingereist und sind geblieben, nachdem ihre Aufenthaltsbewilligung abgelaufen ist. Sie verdienen ihr Geld mit Gelegenheitsarbeiten als Putzfrauen, Erntehelfer, Kinderbetreuerinnen …
Sans-Papiers leben in ständiger Angst, entdeckt zu werden. Es ist für sie schwierig, einen Arzt zu besuchen oder im Streitfall ihre Rechte vor Gericht durchzusetzen.
Der Schulbesuch ist für Kinder ein Menschenrecht; die Schulen dürfen Kinder ohne Papiere nicht anzeigen. Doch Schulkinder ohne Papiere leben in ständiger Angst vor der Ausschaffung. Der Berufsbildungsweg ist ihnen versperrt.
27 Eine Kindheit im Verborgenen
Agron S. erblickt 1997 im Kosovo das Licht der Welt. Er ist noch klein, als sein Vater in die Schweiz flüchtet. Die Mutter folgt mit ihren Kindern später nach. Doch die Familie bekommt keine Aufenthaltsbewilligung. Aus Angst, entdeckt und ausgeschafft zu werden, verstecken die Eltern ihre Kinder lange zu Hause.
Erst mit zwölf kann Agron endlich zur Schule gehen. Damit er die Schule abschliessen kann, bleibt er in der Schweiz, als die Eltern nach Deutschland ziehen.
Die Beratungsstelle für Sans-Papiers hilft dem jungen Mann. Ende 2017 wird er als Flüchtling vorläufig aufgenommen und darf nun legal arbeiten. Er findet eine temporäre Stelle bei einer Abbruchfirma. Froh, keine Sozialhilfe zu brauchen, hofft er nun, dass sein Chef ihn fest anstellt.
28 «Dieses Ein-Rappen-Stück bedeutet mir sehr viel. Vor langem schenkte es mir eine Frau und sagte: ‹Eines Tages wirst Du mehr haben als das.› Damals hatte ich nichts, einfach gar nichts. Seither trage ich diesen Einräppler bei mir. Und ja: Heute habe ich tatsächlich mehr.»
29 «Ich bin stolz auf mich. Ich habe viel durchgemacht, ich habe trotz der Angst, die mich stets begleitete, weitergelebt und Stärke gezeigt. Dass ich als Jugendlicher so viel Verantwortung übernommen habe, das ist nicht selbstverständlich.»
30 Hilfskraft
Knechte und Mägde, Tagelöhnerinnen und Tagelöhner
Auch wenn die ganze Familie mitarbeitete: Bauernbetriebe waren immer schon auf zusätzliche Arbeitskräfte angewiesen. Mägde und Knechte waren meistens selber Bauernkinder, die als Zweit- oder Drittgeborene keinen Hof erbten. Sie verdienten so wenig, dass sie nicht heiraten konnten. Und doch ging es ihnen noch besser als den Tagelöhnern, die nur für einzelne Tage beschäftigt wurden.
Im 19.Jahrhundert stellte die Emmentaler Landwirtschaft vom Ackerbau zunehmend auf Viehwirtschaft um. Der Bedarf an Hilfskräften in der Landwirtschaft nahm ab, mehr noch durch die Mechanisierung im 20. Jahrhundert.
Die Fabriken boten Angehörigen der Unterschicht besser bezahlte Arbeit bei besseren Arbeitsbedingungen. Die Bauernbetriebe warben ihre Knechte und Mägde nun im Ausland an – zunächst in Italien, später in Spanien, Portugal oder Jugoslawien.
Heute kommen die meisten Erntehelferinnen und Erntehelfer mit saisonalen Bewilligungen aus osteuropäischen Ländern.
31 Leidenschaft
Werner Hauerter, Knecht und Sammler, 1920–2001
Aufgewachsen in einfachen bäuerlichen Verhältnissen wurde Werner Hauerter Knecht und diente dreissig Jahre lang auf einem Hof in Hasle bei Burgdorf.
Mit seinem wenigen Geld frönte er seiner Leidenschaft – er sammelte: Lampen, Kaffeemühlen, militärische Gegenstände wie Säbel, Karabiner, Gamellen oder Feldflaschen. Nach der Pensionierung schmückte er seine kleine Wohnung mit den gesammelten Gegenständen aus.
1995 zog Hauerter ins Altersheim. Seine Sammlung schenkte er dem Rittersaalverein: 656 Objekte plus zwei Fotoalben.
32 Werner Hauerter im Alter von 20 Jahren, 1940.
33 Mit Muskelkraft zum Kaffeegenuss
Eine unscheinbare Kaffeemühle – gehört die ins Museum? Ältere Jahrgänge erinnern sich vielleicht noch daran, wie die Grossmutter den Kaffee damit mahlte. Noch findet man solche Mühlen in Brockenhäusern, doch in Gebrauch hat sie kaum mehr jemand.
Auch Werner Hauerter benutzt diese Kaffeemühle nicht, obwohl er frischen Kaffee durchaus geschätzt haben dürfte: Lange Zeit ein Luxus, kann sich die breite Bevölkerung erst seit den 1950er Jahren den täglichen Kaffee leisten. Elektrische Mühlen und später Kaffeeautomaten verdrängen die mechanischen Mühlen aus der Küche.
Wer weiss, vielleicht kehren die Handmühlen bald wieder in die Haushalte zurück, brauchen sie doch keinen Strom. Schloss Burgdorf ist dank Hauerters Sammlung jedenfalls eingedeckt.
34 Aus Hauerters Sammlung: Kaffeemühle aus Buchenholz, Alter unbekannt.
35 Am Anfang war die Lampe
Alltagsgegenstände haben es Werner Hauerter angetan: Wenn der Knecht in aller Herrgottsfrühe in den Stall geht, zündet ihm die Petrollampe den Weg. Diese Stall-Laterne ist das allererste Objekt in Hauerters Sammlung. Er findet sie 1936 in einer Schuttgrube im Kanton Thurgau. Die Lampe entzündet Hauerters Sammelleidenschaft.
Aber wie wird ein Knecht zum Sammler? Hauerter verdient am Ende seiner Knechte-Jahre 160 Franken im Sommer,
140 im Winter. Er muss sich seine Sammlung regelrecht vom Mund absparen; 60 Jahre lang feilscht er bei Händlern und kauft auch mal im Brockenhaus.
Bevor Werner Hauerter 75-jährig ins Altersheim zieht, humpelt er an seinen Krücken den Schlossberg hinauf. Er schenkt seine Sammlung dem Museum und möchte, dass sie «soweit als möglich» ausgestellt wird. Doch für alle 656 Objekte bräuchte es einen ganzen Saal.
36 Aus Hauerters Sammlung: Petrollampe, Alter unbekannt.
37 Aus Hauerters Sammlung: Teller mit dem
Schloss Burgdorf, 1939. Hersteller: DESA Steffisburg.
38 Aus Hauerters Sammlung: Radio UKW Star, um 1960. Hersteller: Kapsch & Söhne.
39 Aus Hauerters Sammlung: Mundharmonika Echophone, 1930er Jahre, mit Prospekt der Herstellerfirma Hohner.
40 Aus Hauerters Sammlung: Bügelflasche mit Aufdruck, Alter unbekannt.
41 Aus Hauerters Sammlung: Binoskop (Plastikbrille mit grünen Gläsern), Alter unbekannt.
42 Aus Hauerters Sammlung: Fotoapparat Brownie No.2, um 1930. Hersteller: Kodak.
43 Aus Hauerters Sammlung: Saufeder (Spiess für die Wildschweinjagd), Alter unbekannt.
44 Werner Hauerter in seiner Pensioniertenwohnung in Hasle, inmitten seiner gesammelten Objekte, Jahr unbekannt. Erst mit der Pensionierung konnte sich Hauerter eine eigene Wohnung leisten, zuvor wohnte er in den Dachkammern seiner Meisterleute.
45 Ausschnitte aus diversen Bandaufnahmen von Werner Hauerter, um 1960. 12 Min. 20 Sek.

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46 Werner Hauerter beim Fotografieren. Foto aus Hauerters Fotoalbum, Jahr unbekannt.
47 Harte Arbeit, tiefer Lohn
Knechte und Mägde im 21.Jahrhundert
Schweizer Landwirtschaftsbetriebe sind auch heute angewiesen auf temporäre und billige Arbeitskräfte. Zu den Erntezeiten brauchen sie zusätzliches Personal, das sie zwischen den Saisons nach Hause schicken können.
Landwirtschaftliche Hilfskräfte kommen heute vor allem aus den östlichen und südlichen Ländern der EU. Sie schuften viel und hart für wenig Geld: Zehn-Stunden-Arbeitstage, fünfeinhalb-Tage-Wochen für 4250 Franken Bruttolohn – abzüglich Kost und Logis. Kein Schweizer, keine Schweizerin würde so arbeiten – aber für Menschen aus Ländern mit sehr tiefem Lohnniveau sind die Jobs auf den Schweizer Höfen interessant. Ein Viertel der ausländischen Hilfskräfte sind Frauen.
48 Der Landwirtschaftsarbeiter
Deividas Buktus arbeitet seit vier Jahren in der Schweiz auf dem Hof der Familie Messer mit ihrer Schweinemast in Zauggenried. Er macht, was an Arbeit gerade anfällt: Holzen, Misten, Schweine füttern, Kartoffeln ernten …
Als er von Litauen in die Schweiz kam, sprach er kein Wort deutsch. Noch heute sei die Verständigung schwierig, doch die Zusammenarbeit sei gut und er arbeite gerne hier. Seine Ausbildung als Elektriker helfe ihm bei seiner Arbeit im hochtechnisierten Mastbetrieb. Deividas arbeitet hart, aber mit seinem Lohn kann er seine Familie in Litauen ernähren, und viermal im Jahr fährt er nach Hause.
Zu Beginn war Deividas Saisonnier und schlief mit anderen Saisonniers im selben Zimmer. Heute hat er eine Wohnung auf dem Hof der Familie Messer und kocht abends für sich. Seine Familie hat ihn auch schon in der Schweiz besucht.
49 «Das ist mein Sohn Kornelijus. Er ist sieben Jahre alt. Wenn ich erwäge, bald definitiv nach Litauen zurückzukehren, dann seinetwegen: Ich möchte ihn aufwachsen sehen.»
50 Warten auf die Ehe
Dienstmädchen in Bürgerfamilien
Vater verdient Geld, Mutter bleibt bei den Kindern: Dieses bürgerliche Ideal entstand im 19.Jahrhundert. Frauen, die arbeiten, galten damals als unschicklich. So beschäftigte Dienstboten, wer es sich leisten konnte.
Doch nicht alle Dienstboten galten gleich viel. Köche und Köchinnen genossen einiges Ansehen, Dienstmädchen standen in der Hackordnung zuunterst. Oft waren es junge Frauen aus ländlichen Familien, welche die Zeit bis zur Heirat überbrücken mussten. Manche blieb dann aber ihr Leben lang ledig – denn um einen Mann kennenzulernen, fehlte die Freizeit.
Dienstmädchen leisteten strenge körperliche Arbeit: Sie putzten, schleppten Wasser, befeuerten die Öfen und sie kauften ein, wodurch sie wenigstens manchmal aus dem Haus und unter die Leute kamen.
51 Stets zu Diensten
Von morgens um fünf bis nachts um elf sind sie auf Achse, ohne Pause dem Willen der Herrschaft ausgeliefert. Sie erdulden viel: die Launen der Gnädigen Frau, das Gemaule der Kinder und die Gelüste des Hausherrn. Erschöpft sinken sie spätabends in ihre Betten in der kalten Dachkammer.
Sie essen in der Küche, wenn die Herrschaft satt ist, und für die dünne Suppe zieht man ihnen viel Geld vom Lohn ab. Wehe der, die eine Arbeit verpfuscht! Das Dienstbüchlein verzeichnet gnadenlos alles. Ohne lupenreines Büchlein findet die Dienstbotin keine neue Stellung. Die Kündigung kommt von heute auf morgen; Gründe brauchts keine, Rechtsschutz oder Gewerkschaften gibt es auch nicht.
Die Herrschaften fürchten stets, dass ihre Bediensteten etwas Besseres finden und den Dienst beenden. Darum verteilt der Ökonomische und Gemeinnützige Verein im Amt Burgdorf Prämien für besonders treue Dienstboten.
52 Karikatur aus der Zeitschrift «Der Neue Postillon», 1908.
53 Alte Jungfer
Sophie Fankhauser, Dienstmädchen, geb. 1848
Viel Schulbildung hat Sophie Fankhauser nicht genossen – da erging es ihr wie den meisten Dienstmädchen. Trotzdem schrieb sie im Alter von fünfzig Jahren ihre Lebenserinnerungen auf.
In einer einjährigen Dienstbotinnenschule lernte Sophie Waschen, Putzen, Kochen, Nähen, Französisch und Gesang. Mit 17 trat sie in die Dienste einer Burgdorfer Pfarrfamilie, die neben ihr eine Köchin und eine zweite Magd beschäftigte.
Ihr Jahreslohn betrug zu Beginn 50 Franken plus Kost und Logis. Zum Vergleich: Der Pfarrer verdiente 1600 Franken pro Jahr – und war stets der Meinung, Sophie leiste zu wenig für ihr Geld. Trotz häufiger Streitereien blieb Fankhauser der Familie treu, bis diese sie nach 20 Jahren entliess. Einen Mann fand Sophie Fankhauser nicht: Sie wurde eine «alte Jungfer».
54 Sophie Fankhauser: «Erinnerungen einer alten Jungfer aus ihren Kinder- und Dienstjahren», Grosshöchstetten, 1897.
55 Auszüge aus «Erinnerungen einer alten Jungfer aus ihren Kinder- und Dienstjahren» von Sophie Fankhauser, gelesen von Vivianne Müsli. 8 Min. 32 Sek.

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56 Dumm und dick
Rosmarie Buri, Bestsellerautorin, 1930–1994
Dass sie dumm sei, glaubte Rosmarie Buri selber lange – oft genug hat man ihr das schliesslich gesagt. Zu ihrem 50.Geburtstag sagte ihr ein Horoskop, sie sei intelligent – und Buri beschloss, das zu glauben. Sie wagte es nun, ihre Lebenserinnerungen aufzuschreiben.
Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, wurde Buri mit 19 Dienstmädchen in einer Burgdorfer Fabrikantenfamilie. Sie schuftete hart von morgens früh bis abends spät, und wenn sie am Sonntagnachmittag frei hatte, durfte sie nur mit Erlaubnis der Dienstherrschaft in den Ausgang. Beschimpfungen gehörten zu ihrem Arbeitsalltag.
Einen Lohn für ihr Leben brachte ihr erst das Schreiben: Das Buch «Dumm und dick» wurde zum Bestseller.
57 Selbstermächtigung
Wer interessiert sich für die Lebensgeschichte einer Frau, die dick und ungebildet ist und sich dafür schämt? Niemand – sagen sich zahlreiche Verlage und lehnen es ab, Rosmarie Buris Lebensgeschichte zu publizieren.
Nach acht Jahren findet Buri den Verleger Walter Keller. Er bringt das Buch 1990 heraus – und landet eine Sensation: «Dumm und dick» verkauft sich 300 000 Mal! Rosmarie Buri erlebt grosse öffentliche Aufmerksamkeit und wird mit dem Buch reich. 1993 veröffentlicht Buri ihr zweites Buch «Kuhfladen mit Zuckerguss».
Buris Bücher lösen einen Boom aus: In den 1990er Jahren bringen viele Frauen und Männer ihre Lebenserinnerungen auf Papier – wenn auch niemand mit dem gleichen Erfolg. In Buris Schreiben sehen sie eine Aufforderung zur Selbstermächtigung.
58 Auszüge aus «Dumm und Dick» von Rosmarie Buri, gelesen von Rosmarie Buri. 7 Min. 5 Sek.

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59 Allzeit bereit
Dienstbotinnendasein heute
Die Dienstbotinnen von einst waren rund um die Uhr verfügbar. Heute sind 24-Stunden-Dienste arbeitsrechtlich verboten – doch das Verbot nützt denen nichts, die es nicht kennen, die Sprache kaum sprechen und sozial isoliert sind. In dieser Situation befinden sich tausende Pflegerinnen, so genannte Care-Migrantinnen, meist aus östlichen EU-Staaten.
Die Care-Migrantinnen betreuen in der Schweiz alte Menschen, die dadurch zu Hause bleiben können, statt ins Heim zu müssen. Vermittelt werden sie von (mitunter dubiosen) Agenturen. Für Schweizer Verhältnisse sind sie billig; gemessen an dem, was sie zu Hause verdienen würden, ist ihr Lohn aber hoch.
Der Preis ist ein Leben in zwei Welten: In der Schweiz betreuen sie ihre Auftraggeberin oder ihren Auftraggeber, erledigen den Haushalt und sind rund um die Uhr verfügbar. Im Heimatland leben ihre Familie und ihre Freunde, die sie meist nur einmal im Monat für ein paar Tage sehen.
60 Die Care-Migrantin
Manyi Gillich ist 52-jährig, als sie in die Schweiz kommt, um als Pflegerin zu arbeiten. In ihrer Heimat in Ungarn leitete sie 35 Jahre lang ein Kulturhaus. Sie liebte diese Arbeit, doch als ihr Sohn zu studieren begann, reichte der Lohn nicht mehr aus.
Heute verdient Manyi in der Schweiz 135 Franken am Tag; Unterkunft und Verpflegung sind bezahlt. Rund um die Uhr ist sie für ihre Patientinnen oder Patienten da. Nur die medizinische Betreuung übernimmt die Spitex. Viele Pflegebedürftige hat Manyi schon bis zum Tod begleitet.
Unterdessen braucht ihre eigene Mutter in Ungarn Pflege. Ihr Mann schaut zu ihr, so kann Manyi in der Schweiz bleiben, bis sie pensioniert ist. Sie verbringt jedes Jahr einen Monat in Ungarn und reist etwa alle sechs Wochen hin, um ihre Familie zu sehen. Den täglichen Kontakt machen Skype und Whatsapp möglich.
61 «Mit der Glocke kann mich die Frau, die ich betreue, rund um die Uhr rufen. Manchmal klingelt sie dreimal in der Nacht.»
62 «Betreuung rund um die Uhr ist enorm anstrengend. Ich wohne bei den Pflegebedürftigen, mache ihren Haushalt, kaufe für sie ein, koche, wasche und putze … Obgleich ich manche Stunden nichts zu tun habe, gibt es eigentlich keine Freizeit – ausser an den Tagen, an denen jemand von der Familie zu Besuch ist. 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche bin ich auf Abruf und arbeite durchschnittlich 14 Stunden pro Tag.»
63 «Anfangs kam ich über eine Agentur in die Schweiz. Der Lohn war enorm tief und die Anstellung nicht korrekt. Für diese vier Jahre werde ich keine AHV-Rente erhalten, weil nichts einbezahlt wurde. Nie mehr würde ich für eine Agentur arbeiten. Die Agenturen kümmern sich nur um ihren Gewinn.»